Digitale Gesundheit aus der Praxis in die Politik: Ein Gespräch mit Prof. Dr. Claudia Schmidtke, MdB

Digitale Gesundheit aus der Praxis in die Politik: Ein Gespräch mit der Patientenbeauftragten der Bundesregierung.

Cnetz-Interview mit Prof. Dr. Claudia Schmidtke, MdB, Medizinerin und seit 2019 Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten.

Mit Prof. Schmidtke sprechen wir über Chancen und Herausforderung für die Digitalisierung auch durch die Corona-Krise, Datenschutz, die Modernisierung der Gesundheitsversorgung, die Bedeutung von Digital Health-Startups für Innovation sowie das Potenzial Künstlicher Intelligenz in der Medizin.

Philipp Bohn: Sie vertreten als Medizinerin für die CDU den historisch sozialdemokratischen Lübecker Wahlkreis 11 im Deutschen Bundestag. Wie war das als Quereinsteigerin möglich und was hat Sie dazu motiviert?

Prof. Dr. Claudia Schmidtke: Möglich war das vor allem durch eine Partei, die Quereinsteigerinnen und ihrem Blick von außen eine Chance gibt. Da ist die CDU in meinem Wahlkreis besser aufgestellt als die meisten anderen Parteien. Meine Motivation liegt daher auch auf der Hand: Ich wollte meine Erfahrung aus medizinischer Versorgung, Wissenschaft und Forschung in die Gesundheitspolitik einbringen.

Philipp Bohn: Was ist für Sie als Patientenbeauftragte des Bundes die jeweils größte Chance und Herausforderung der Digitalisierung?

Claudia Schmidtke: Die Chancen der Digitalisierung sind enorm. Ich will Ihnen das an einem Beispiel erläutern. In den 1990er Jahren leitete ich eine Spezial-Ambulanz für Patienten mit Marfan-Syndrom, einer vererbten Bindegewebserkrankung. Die liefen damals mit ihren Aldi-Tüten voller Arztbriefe und Röntgenbilder von Ärztin zu Arzt. Allein, dass wir hier, bei chronisch kranken Menschen, für Entlastung sorgen können, freut mich sehr.

Und wenn wir es dann noch schaffen, über die digitalisierten Versorgungsdaten Erkenntnisse für die Erforschung seltener Erkrankungen oder Therapieoptimierungen bei den großen Volkskrankheiten zu entwickeln, können wir durch die Digitalisierung tatsächlich in eine neue Zeit der Gesundheitsversorgung eintreten.

Die größte Herausforderung ist eindeutig die Anfangsphase, diese Übergangszeit, in der wir uns derzeit befinden. Nur wenige Versicherte wissen, dass ihnen seit dem 1. Januar 2021 eine elektronische Patientenakte (ePA) zur Verfügung steht. Auch der Prozess hierfür ist bei vielen Krankenkassen eher umständlich geregelt. Hier braucht es noch ein wenig Geduld, aber auch mehr Vermittlung digitaler Gesundheitskompetenz. Nicht nur bei Versicherten, auch bei Kostenträgern und Leistungserbringern.

Philipp Bohn: Die Corona-Krise hat leidenschaftliche und auch berechtige Diskussionen über den Stand der Digitalisierung in Deutschland ausgelöst. Sind wir im Gesundheitssektor weiter als in der öffentlichen Wahrnehmung?

Claudia Schmidtke: Bei aller verständlichen Kritik am schleppenden Digitalisierungsstand im öffentlichen Gesundheitsdienst, der mich zum Beispiel bezüglich der Einführung der SORMAS-Software zum Epidemiemanagement in den Gesundheitsämtern der Kommunen auch umtreibt: Im Bund sind wir in den letzten Jahren entscheidend vorangekommen. Unter Jens Spahn hat das Bundesgesundheitsministerium die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung in einem Tempo angetrieben, das – und das ist die andere Seite der Medaille – viele im Gesundheitswesen fast überfordert hat. Wir haben nun klare Zeitpläne für die Schritte, in denen die ePA durch elektronische Krankschreibungen, Impfpass und die Forschungskompabilität erweitert wird.

Philipp Bohn: Israel kehrt dank einer raschen Impfkampagne schneller als andere Länder zum normalen Alltagsleben zurück. Das freizügigere Teilen von Gesundheitsdaten der Bevölkerung war bei den Vertragsverhandlungen mit Impfstoffherstellern offenbar hilfreich. Welche Daten sind das genau und in welcher Form werden sie geteilt?

Claudia Schmidtke: Es ist ja durchaus ein normaler Vorgang, dass ein Hersteller Beobachtungsdaten zu seinem Produkt einsammelt. Man spricht auch von der Phase IV-Studie, die der weiteren Nutzen-Risiko-Abschätzung dient. Inwiefern diese Datenerhebung in Israel tiefergehend vereinbart wurde als innerhalb der Europäischen Union, kann ich nicht beantworten.

Philipp Bohn: Gehen wir beim medizinischen Datenschutz zu weit?

Claudia Schmidtke: Wir machen ihn oft komplizierter, als er sein müsste. Mir sind zum Beispiel bei der Nutzung von Forschungsdaten zwei Dinge wichtig. Erstens: Dass keine Daten der Patientinnen und Patienten ohne deren informierte Einwilligung genutzt werden. Und zweitens: Dass uns allen wieder bewusster wird, dass Studiendaten eine wichtige Grundlage für die Entwicklung von Diagnose- und Therapieoptionen sind.

Philipp Bohn: Datenschutz war für einige Nutzer und Kritiker der Corona-Warn-App des Bundes immer wieder ein Thema. Seit ihrer Einführung im Juni 2020 kamen durch einen agilen Entwicklungsansatz stetig neue Funktionen hinzu. Wie wichtig ist die App für die Pandemiebekämpfung?

Claudia Schmidtke: An die Corona-Warn-App wurden leider von Anfang an zu hohe Erwartungen gestellt. Sie war nie dafür gedacht, das individuelle Ansteckungsrisiko zu begrenzen oder Ansteckungsstudien zu erarbeiten. Es ging immer um die Warnung: „Du hattest einen Risikokontakt. Ziehe Dich zurück und lasse Dich testen.“ Und diese Funktion erfüllt die App vom ersten Tag an zuverlässig.

Mittlerweile sind neue Funktionen hinzugekommen, wie das Kontakttagebuch oder die Check-In-Funktion. Doch ich hätte mir eine stringentere Kommunikation darüber gewünscht, wie epidemiologisch wichtig der Kernbereich der App, also die anonyme Ermittlung von unbewussten Kontakten über Bluetooth, eigentlich ist.

Philipp Bohn: Für die Modernisierung der Gesundheitsversorgung und zur besseren Bewältigung der Covid-Pandemie wurde 2020 das Krankenhauszukunftsgesetz (KHZG) erlassen. In welchen Bereichen ist die Digitalisierung in Krankenhäusern besonders nötig und wichtig?

Claudia Schmidtke: Bei der Digitalisierung von Krankenhäusern verhält es sich wie mit allen anderen Bereichen im Gesundheitswesen: Wenn man einzelne Bereiche digitalisiert und andere nicht, dann hat man den Prozess schon verloren. Tatsächlich muss Digitalisierung die übergreifende Versorgung ermöglichen – zwischen den medizinischen Disziplinen, aber auch zwischen den Sektoren. Wir müssen in die Lage kommen, dass sich ein Patient mit seiner elektronischen Patientenakte nahtlos zwischen stationärer und ambulanter Behandlung und weiter zu den Heil- und Hilfsmittelerbringern bewegen kann. Wir müssen umfassend denken. Das gilt natürlich erst recht für die Stationen eines Krankenhauses.

In meinem Wahlkreis hat das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein auf dem Lübecker Campus jüngst einen beeindruckenden Aufschlag gemacht und ein digitales Krankenhaus mit analogen Patienten geschaffen. Auch der heutige Leiter des health innovation hubs (hih) am BMG, Prof. Dr. Jörg Debatin, hat in seiner Zeit am Universitätsklinikum Eppendorf Revolutionäres geleistet.

Philipp Bohn: Auch die IT-Sicherheit sollte für Krankenhäuser Priorität haben, wie Hackerangriffe etwa in Hamburg oder Düsseldorf deutlich gemacht haben. Gibt es da ausreichend Sensibilität in der Branche?

Claudia Schmidtke: Ich kenne kein Krankenhaus, das dieses Thema nicht ernst nimmt. Aber das reicht natürlich nicht. Wir müssen in allen Bereichen, in denen hochsensible Patientendaten gespeichert und verarbeitet werden, für höchste Sicherheitsstandards sorgen. Denn die wichtigste Währung beim Einstieg in ein digitales Gesundheitszeitalter ist das Vertrauen der Patientinnen und Patienten. Das steht und fällt mit der Sicherheit ihrer Daten.

Philipp Bohn: Virtuelle Arztbesuche haben während der Pandemie zur Kontaktreduzierung im Gesundheitswesen beigetragen. Hat Covid den Durchbruch für die Telemedizin auch hierzulande gebracht? Sind Ärzte, Patienten und Gesetzgeber vorbereitet?

Claudia Schmidtke: Es gab einen regelrechten Boom. Nach Schätzungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung nutzten schon im April 2020 rund ein Viertel aller Arztpraxen die Videosprechstunde. Das entsprach im Vergleich zum Februar einem Anstieg von rund 1370 Prozent! Schon während der ersten Monate der Pandemie haben sich Patientinnen und Patienten bei mir gemeldet, weil sie ihre logopädische oder ergoterapeutische Sitzung gern telemedizinisch fortsetzen wollten. Sie fanden nicht nur die Kontaktarmut praktisch, sondern teilweise sogar die Qualität der Behandlung besser.

Wir als Gesetzgeber haben 2019 im Rahmen des Digitale-Versorgung-Gesetzes auf die Aufhebung des Fernbehandlungsverbotes durch die Ärztekammern ein Jahr zuvor reagiert. Telemedizin kann nun in fast allen Bereichen abgerechnet werden und wird bei zunehmend steigender Nachfrage auch noch mehr Anbieter unter den Ärztinnen und Ärzten sowie den Therapeutinnen und Therapeuten finden. Da bin ich mir sicher.

Philipp Bohn: Telemedizin ist ein gutes Beispiel für Startups als Innovationstreiber. Sie gehörten zu den ersten Anbietern dieser Dienste. Was spricht für Deutschland als Standort für Digital Health-Startups?

Claudia Schmidtke: Für Deutschland spricht, dass wir einen der größten Märkte der Welt für medizinische Innovationen haben, dass unser Land forschungsstark ist und über viele kluge Köpfe verfügt, die bei der Entwicklung und Vermarktung von digitalen Angeboten unterstützen können.

Gegen Deutschland spricht oft das vergleichsweise komplizierte Gesundheitssystem, in dessen Regelversorgung man es erst einmal schaffen muss. Bundestag und Bundesregierung haben mit ihren Regelungen zu digitalen Gesundheitsanwendungen (DiGA) eine bürokratiearme Lösung für den Markteintritt geschaffen. Wir müssen nun eine Zeit lang beobachten, ob das ausreicht oder nachgesteuert werden muss.

Philipp Bohn: Künstliche Intelligenz ist eine wichtige Grundlagentechnologie etwa in der Medikamentenentwicklung und Diagnostik. Wesentliche KI-Plattformen werden allerdings außerhalb Europas in anderen wirtschaftlichen, rechtlichen und ethischen Systemen entwickelt. Ist das ein Problem oder sind wir gut aufgestellt?

Claudia Schmidtke: Bei der KI-Grundlagenforschung sind Europa und insbesondere Deutschland ein stabiler Anker, doch bei der angewandten Forschung und Entwicklung haben wir erheblichen Nachholbedarf. Das ist auch das Fazit der Enquete-Kommission des Bundestages zur Künstlichen Intelligenz, der ich in den vergangenen drei Jahren angehörte. Wir können und wollen bei unserem Aufholprozess jedoch keine Abstriche bei unseren ethischen Standards machen. Im Gegenteil: KI made in Europe muss jetzt die Standards auch in diesem Bereich setzen, an denen die Welt dann nicht mehr vorbei kann.

Was braucht es? Unser Wissenschaftssystem muss flexibler werden. Wir brauchen Experimentierräume, Reallabore, um neue Entwicklungen am Marktumfeld zu testen. Und in jeder Disziplin, die in Deutschland gelehrt und an der geforscht wird, muss künftig KI hinzugedacht werden. In meinem Wahlkreis befinden sich zum Beispiel eine schlagkräftige Universität mit Medizin- und Informatik-Schwerpunkt, das dortige Universitätsklinikum, eine Technische Hochschule und herausragende medizintechnische Industrie – das Drägerwerk ist ja spätestens seit den Debatten um Beatmungsgeräte in der Corona-Pandemie sehr bekannt.

Ich habe erfolgreich vermittelt, dass sich nun auch eine Außenstelle des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz (DFKI) in Lübeck ansiedelt, um beste Synergien für innovative Anwendungen und Produkte für das Gesundheitswesen der Zukunft zu entwickeln. Derartige Schwerpunkte müssen wir an vielen Standorten in Deutschland finden und massiv fördern.

Philipp Bohn: Haben Patienten und medizinisches Personal ausreichend Vertrauen in KI-Lösungen?

Claudia Schmidtke: Wir müssen mehr darüber erzählen, was KI im Gesundheitswesen eigentlich ist. Leider wurde KI uns meist als ein Pflegeroboter dargestellt. Tatsächlich ist es aber viel mehr als das. Beispiel Demenzforschung: Hier ist die Medikamentenentwicklung seit Jahrzehnten erfolglos, immer wieder an Grenzen gestoßen. Fast alle pharmazeutischen Unternehmen haben ihre Forschung in diesem Bereich eingestellt. Durch KI im Bereich der Spracherkennung gibt es nun belastbare Hinweise darauf, dass wir viel früher als zuvor Demenz diagnostizieren können. In diesem Frühstadium können nun auch ganz andere Medikationen Erfolg haben.

KI öffnet Türen zu Diagnostik und Therapie, wo sie zuvor verschlossen waren. Je deutlicher das wird, also wie KI das Leben der Menschen verbessern kann, desto eher wird auch das Vertrauen in ihren Einsatz zunehmen.

Philipp Bohn: Wo können wir unsere Regulation anpassen, um Vertrauen in die Künstliche Intelligenz weiter zu erhöhen?

Claudia Schmidtke: Ich habe bisher den Eindruck, dass der bestehende Rechtsrahmen bei Fragen wie Haftung und Gefährdung auch für KI-Entwicklungen ausreichend robust ist. Darüber hinaus verfügen wir über eine Stärke, die schon im industriellen Zeitalter weltweit Standards – im Wortsinn – gesetzt hat, nämlich über das Deutsche Institut für Normung (DIN) und die Standards des deutschen Ingenieurwesens. Deutsche Produkte stehen schon immer für Sicherheit, Stabilität und Nachhaltigkeit. Daran darf sich nichts ändern. Aber ich bin auch sicher: Daran wird sich nichts ändern.

Philipp Bohn: In einem früheren Interview haben wir mit Marco-Alexander Breit vom BMWi über das europäische Innovationsökosystem GAIA-X gesprochen. Was sind hier Ihre Erwartungen für den Gesundheitssektor?

Claudia Schmidtke: GAIA-X ist eine der Säulen, mit denen die europäische Industriepolitik Innovation und Wachstum absichert. Ich bin sehr zuversichtlich, dass das auch im Gesundheitssektor in Deutschland zu spüren sein wird. Innovationen können nur dort wachsen, wo sie eine Infrastruktur für ihre Daten finden. Das BMWi und Herr Breit engagieren sich da enorm.

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KURZBIO

CNetz-Mitglied Prof. Dr. Claudia Schmidtke (CDU/CSU) ist Herzchirurgin und vertritt seit 2017 den Wahlkreis 11 (Lübeck) im Deutschen Bundestag, wo sie als Mitglied im Gesundheitsausschuss und in der Enquete-Kommission Künstliche Intelligenz tätig ist. Im Januar 2019 wurde sie zusätzlich als Beauftragte der Bundesregierung für die Belange der Patientinnen und Patienten berufen.

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