Neustaat: Interview mit Nadine Schön (CDU), MdB und cnetz-Beirätin

Neustaat: Interview mit Nadine Schön (CDU), MdB und cnetz-Beirätin

Nadine Schön hat mit ihrem Bundestagskollegen Thomas Heilmann das Buch „Neustaat“ herausgegeben. Viele Abgeordnete und Experten aus Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft machen darin konkrete Vorschläge, wie sich Politik und Staat digitalisieren und damit ändern müssen.

Einige Fragen zur digitalen Ordnungspolitik, dem agilen Staat und europäischer Datensouveränität möchte ich mit Nadine vertiefen.

Digitale Ordnungspolitik

Philipp Bohn: Nadine, steigen wir mit einem großen Thema ein. Unsere föderalen Politik- und Verwaltungssysteme haben nicht zuletzt in Krisensituationen klare Vorteile. Wir können schnell und auf Grundlage lokaler Bedürfnisse handeln und reagieren. Gleichzeitig ist überregionale und organisationsübergreifende Skalierbarkeit ein wesentlicher technischer und ökonomischer Erfolgsfaktor digitaler Technologien, besonders in der Cloud. Können wir Föderalismus und Skalierbarkeit zusammenbringen?

Nadine Schön: Der Föderalismus ist grade aus den Gründen, die du genannt hast, eine Stärke Deutschlands – das wissen wir nicht erst seit Corona. Gleichzeitig ist er im Bereich Digitalisierung, vor allem bei Skalierbarkeit, eine große Herausforderung. Das sehen wir der digitalen Verwaltung, wo sich Lösungen je nach Bundesland, teilweise sogar bis auf die kommunale Ebene unterscheiden. Auch beim Thema Datenschutzaufsicht, wo jedes Bundesland seine eigene Aufsicht hat, wird es durch die föderale Struktur nicht leichter.

Die Lösung liegt aus meiner Sicht aber nicht in einer Zentralisierung, sondern darin, die Teillösungen interoperabel zu machen und für besseren Austausch zu sorgen. Wir brauchen offene Standards und Schnittstellen, nach denen Angebote und Lösungen miteinander funktionieren müssen. Darüber hinaus brauchen wir eine Austauschplattform für funktionierende Lösungen, auf die Interessierte dann zurückgreifen können. Für die Verwaltung wird das derzeit in Form einer Austauschplattform für bestehende Open-Source-Anwendungen umgesetzt. Zu Ende gedacht, soll daraus eine Art App-Store für die Verwaltung werden.

Das schafft letztlich auch eine bessere Skalierbarkeit, da sich in einem interoperablen Ökosystem die Anwendungen durchsetzen werden, die die beste Usability und Customer Experience haben und gleichzeitig die nötigen Qualitäts- und Sicherheitsstandards erfüllen.

Philipp Bohn: Führende Unionspolitiker fordern seit langem die Schaffung eines Digitalministeriums. Dem Grünen-Vorschlag einer Technologie-Taskforce zur ministerienübergreifenden Orchestrierung mit eigenem Budget kann ich aber auch etwas abgewinnen. Nicht zuletzt, weil dies eine agile Transformationsfunktion mit endlichem Zeithorizont sein sollte. Was ist deine Position?

Nadine Schön: Ein Digitalministerium darf nicht gleichbedeutend mit der Rauslösung digitaler Inhalte aus den anderen Ressorts sein. Digitale Bildung muss weiter im Bildungsministerium behandelt werden, e-Health im Gesundheitsministerium – alle Bereiche werden digitaler, also brauchen alle Häuser Digitalkompetenz. Dennoch ist es richtig, eine zentrale Innovations- und Steuerungseinheit zu schaffen. Deshalb müssen wir ein Digitalministerium eher als ein Ministerium für digitale Transformation begreifen. Sinnvoll wäre die Koordination wichtiger Vorhaben, damit Digitalpolitik aus einem Guss erfolgt.

Wir schlagen in Neustaat vor, dass das Digitalministerium durch Innovationsbudgets steuern kann. Diese Mittel für Digitalisierungs- und Innovationsprojekte in den Häusern werden erst freigegeben, wenn das Digitalministerium zustimmt. Das würde dafür sorgen, dass Digitalpolitik nach einheitlichen Standards passiert und vernetzt ist und nicht jeder sein eigenes Süppchen kocht, ohne die Schnittstellen zu anderen Bereichen zu sehen.

Und schließlich müsste das Digitalministerium ein Transformationsministerium für Politik und Verwaltung sein. Auch wir müssen uns ändern, und zwar gewaltig. Es geht nicht nur um digitale Inhalte, sondern auch darum, Prozesse selbst zu digitalisieren und kritisch zu hinterfragen. Deshalb muss ein Digitalministerium aus meiner Sicht auch zwingend das Thema Politik- und Verwaltungsmodernisierung mitdenken und zur Priorität machen.

Philipp Bohn: Vor einigen Wochen hat die Gründung eines Betriebsrats beim Berliner FinTech N26 eine Debatte um Bedeutung und Rolle traditioneller Arbeitnehmervertretung bei stark wachsenden, international aufgestellten Startups ausgelöst. Sicherlich ist die betriebliche Mitbestimmung ein Kulturgut, auf das wir als deutsche Wirtschaft und Gesellschaft stolz sein können und das wir bewahren wollen. Siehst du aber auch Reform- oder zumindest Anpassungsbedarf?

Nadine Schön: Das deutsche Arbeitsrecht und seine Ideen zu Mitbestimmung, gewerkschaftlicher Organisation und Schutz von Arbeitnehmern ist zunächst, wie du richtig sagst, eine große Errungenschaft und auch ein Erfolgsfaktor für Deutschland im internationalen Vergleich.

Für viele Digitalunternehmen ist es gleichzeitig eine große Herausforderung, da sie kulturell mit häufig recht unflexiblen und analog denkenden Betriebsräten und Gewerkschaften fremdeln. Wenn Meetings nicht per Videokonferenz stattfinden können oder Prozesse nicht digitalisiert werden können, weil ein Betriebsrat sein Veto einlegt, ist keinem geholfen.

Sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmervertretungen müssen alte Zöpfe abschneiden und Verständnis für die Gegenseite aufbringen. Flexibilisierung von Arbeitsbedingungen ist nicht per se etwas, was Betriebsräte bekämpfen müssen, und Mitspracherechte für Mitarbeiter können sich auch sehr positiv für den Erfolg eines Unternehmens zeigen.

Agiler Staat

Philipp Bohn: GovTech ist ebenfalls ein wachsendes Startup-Segment. Oft hemmen aber öffentliche Beschaffungsprozesse mit langen und komplexen Entscheidungszyklen gerade in frühen Entwicklungsphasen das Wachstum. Auch erfüllen Startups manche Qualifizierungskriterien per Definition nicht, also etwa Referenzen und Mindestumsatzvolumen. Welche Ansätze hat da die digitale Verwaltung?

Nadine Schön: Die Beschaffung ist in der Tat ein großes Thema. Die Verwaltung geht meistens auf Nummer Sicher. Es geht eher um Fehlervermeidung als um die Wahl der besten Option, die eventuell ein Risiko mit sich bringt. Startups leiden darunter besonders. Denn sie werden als besonders unsicher betrachtet. Da greift man dann lieber zu konventionelleren, etablierteren Anbietern. Aus Sicht der Verwaltung kann man das verstehen.

Dennoch müssen wir mehr Innovation ins System bringen. Unser Ansatz ist open-x. Wir wollen mit offenen Standards und offenen Schnittstellen und, wo möglich, auch mit Open Source arbeiten. Das schafft eine Grundlage, an der auch Startups sich mit ihren Lösungen andocken können. Und das schafft Innovation. Denn die größte oder sicherste Lösung ist nicht immer die beste. Kleine Lösungen, die schnell implementiert werden können, sind häufig viel sinnvoller als der vermeintliche große Wurf. Wir müssen die Vielfalt der Angebote im Markt, vor allem auch von Startups, nutzen und die Lösungen untereinander kompatibel machen über offene Standards und Schnittstellen.

Philipp Bohn: Über den #WirVsVirus-Hackathon der Bundesregierung hatte ich auch mit deiner Bundestagskollegin und Co-Autorin Ronja Kemmer gesprochen. Wie werden aus solchen vielversprechenden und sichtbaren Anfangserfolgen Teile eines offenen, skalierbaren Betriebsmodells für den „Neustaat“?

Nadine Schön: Events wie der Hackathon haben einen doppelt positiven Effekt, indem sie der Verwaltung vor Augen führen, wie agiles Arbeiten in der Tech-Community funktioniert. Zum anderen bekommt die Community ein besseres Verständnis der Arbeit der Verwaltung.

Es ist Teil der Unions-DNA, dass wir als Staat Herausforderungen beschreiben und dann kooperativ mit der Wirtschaft Lösungen entwickeln. Das ist unsere Idee der sozialen Marktwirtschaft und unterscheidet uns auch von anderen Parteien, die entweder verstärkt über Verbote regulieren oder den Markt mehr sich selbst überlassen wollen.

Der Hackathon ist ein Positivbeispiel für eine solche Kooperation von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft, wie wir sie uns vorstellen. Im Sinne eines „Neustaats“ muss die Arbeitsweise von #WirVsVirus verstetigt werden und zu einem fortlaufenden produktiven Austausch ausgebaut werden.

Philipp Bohn: Der agile Staat muss über agile Kommunikation vermittelt werden. Bislang schließe ich mich aber dem Eindruck an, dass etwa die Bundestagsfraktionen ihre traditionelle Pressearbeit lediglich in die sozialen Medien verlagert haben, statt die Möglichkeiten dieser Medien auszunutzen. Also Broadcasting statt Community-Management. Gibt es da Aussicht auf Besserung?

Nadine Schön: Ich teile die Sicht, dass die traditionelle, analoge Kommunikation lediglich in die sozialen Medien verlagert wurde, nicht. Wir bespielen neue Kanäle, entwickeln immer wieder neue Formate.  Viele Formate oder Veranstaltungen sind wesentlich interaktiver geworden und bieten viel mehr Möglichkeiten, als Bürger direkt mitzuwirken.

Europäische Datensouveränität

Philipp Bohn: Abschließend möchte ich die digitalpolitische Forderung und Förderung einer größeren europäischen Datensouveränität ansprechen. In Pandemiezeiten und darüber hinaus können wir dank Video- und Chatplatformen im Home Office und überall weitgehend produktiv arbeiten. Obwohl es technologisch keine Rocket Science ist, stammen alle wichtigen Collaboration-Plattformen aus den USA. Woran liegt das aus deiner Sicht und was können wir tun?

Nadine Schön: Wir laufen Gefahr, den nächsten Software-Lock-In zu bekommen bei Videokommunikation. Die Komplexität der Anwendungen ist dabei nicht einmal ausschlaggebend. Hintergrund sind vielmehr die angesprochenen Scaling-Probleme und deregulierten Märkte in USA und China. Diese Rahmenbedingungen machen es wesentlich leichter, sich zum Global Player aufzuschwingen.

Wir müssen europäische Startups vor allem in der Growth-Phase stärker unterstützen, um ihnen die finanziellen Möglichkeiten zum Skalieren zu geben. Um Produktentwicklung und Scaling in Europa zu stärken, bin ich Befürworterin von gezielten Experimentierräumen für Startups, in denen sie unter vereinfachten regulatorischen Bedingungen entwickeln können. Vor allem in sehr entwicklungslastigen Feldern würde uns das wettbewerbsfähiger machen.

Und wir arbeiten intensiv am Thema Wachstumskapital. Gerade bringen wir einen Zukunftsfonds in Höhe von 10 Mrd zusätzlichem staatlichen Kapital auf den Weg. Gehebelt durch privates Kapital landen wir bei dem Doppelten bis Dreifachen. Das ist ein Quantensprung. In Neustaat machen wir weitere Vorschläge, um das Startup-Ökosystem zu stärken. Beispielsweise eine innovative Form der Mitarbeiterbeteiligung.

Philipp Bohn: Über Collaboration hinaus schafft Gaia-X ein europäisches Innovations- und Cloudökosystem. Was ist für dich der langfristig wichtigste Erfolgsfaktor für die Plattform?

Nadine Schön: Im Konsortium bekennen sich ja derzeit viele Unternehmen und Behörden zum Projekt. Der Erfolg von Gaia-X steht und fällt letztlich mit der Frage, wie viele Player es auch tatsächlich nutzen. Wir haben die Chance, daraus ein großes Projekt der digitalen Souveränität zu machen. Das sollten wir alle gemeinsam nutzen.

Philipp Bohn: Die Künstliche Intelligenz-Landkarte der Plattform Lernende System zeigt, dass sich die deutsche Forschung und Entwicklung überhaupt nicht verstecken muss. Was uns meiner Meinung nach fehlt, sind die großen europäischen Digitalkonzerne mit sichtbaren Marken, die dieses Wissen absorbieren, bündeln und vermarkten können. Bei aller hinsichtlich Datenschutz geübten Kritik an den GAFA*-Konzernen übernehmen sie derzeit global diese Rolle. Als europäischer Markt sollten wir davon lernen, oder?

Nadine Schön: Unsere Forschung, zum Beispiel im Bereich künstliche Intelligenz und Blockchain gehört zur absoluten Weltspitze. Was zu häufig fehlt, ist der Transfer in Geschäftsmodelle und die nötigen Rahmenbedingungen für eine schnelle Skalierbarkeit. Wir müssen die Durchlässigkeit der Forschung von die Wirtschaft weiter erhöhen und an den Universitäten das Gründer-Mindset weiter etablieren. Deshalb schlagen wir in Neustaat die Schaffung von Universitätsfonds vor.

Das ist aber längst nicht alles. Auch unsere Datenpolitk muss innovativer werden. Dazu machen wir Vorschläge im Buch: Weg von Datensparsamkeit, hin zu Datensouveränität. Wir wollen einen besseren Zugang zu Daten und deren Wertschöpfungspotenzial und gleichzeitig dem Bürger bessere Werkzeuge an die Hand geben, um die Erhebung und Nutzung seiner Daten selbstbestimmter steuern zu können.

Und wir setzen einen weiteren Schwerpunkt: Das Thema Standardisierung hat bisher eine zu untergeordnete Rolle gespielt. Die digitale Welt braucht schnellere Normung und Standardisierungsverfahren, wenn wir nicht die de facto-Standards der GAFA akzeptieren wollen. Wir können nicht von digitaler Souveränität träumen, wenn wir gleichzeitig in zentralen strategischen Bereichen ausschließlich nach den Regeln und AGBs amerikanischer und chinesischer Unternehmen spielen. Unser Ziel ist ein offenes digitales Ökosystem sein. Dafür setzen wir uns ein.

* Gemeint sind Google, Amazon, Facebook und Apple.

 

Kurzbiographie:

Nadine Schön ist seit 2009 direkt gewählte Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis 298 im Saarland. Seit 2014 gehört sie dem geschäftsführenden Vorstand der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag an. Als stellvertretende Fraktionsvorsitzende ist sie für die Themenfelder Digitale Agenda sowie Familie, Senioren, Frauen und Jugend verantwortlich. Darüber hinaus ist Nadine Schön seit 2017 Vorsitzende der CDU-Landesgruppe Saarland.

Seit 2017 hat Nadine Schön außerdem das Amt der Stellvertretenden Landesvorsitzenden der CDU Saar inne. Vor ihrem Bundestagsmandat war sie von 2004 bis 2009 Mitglied des Saarländischen Landtages.

Die Diplom-Juristin ist verheiratet und hat zwei Söhne.

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