Interview mit #cnetz-Mitglied Serap Güler

Mehr digitale Inklusion in Familie, Beruf und Gesellschaft

Interview mit Serap Güler, Staatssekretärin für Integration im Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen.

Philipp Bohn: Ist digitale Inklusion auf der politischen Agenda weit genug oben?

Serap Güler: Der Begriff „digitale Inklusion“ bedeutet vereinfacht gesagt, dass alle gesellschaftlichen Gruppen gleichberechtigt an der digitalen Welt teilhaben können. Dazu braucht es drei elementare Dinge: Erstens, die notwendige Infrastruktur, angefangen bei der Netzabdeckung und dem Zugang zu Endgeräten. Zweitens, die notwendigen digitalen Kompetenzen, um sicher mit digitalen Medien umgehen zu können. Und drittens, die Angebote. Das können digitale Medien oder Bildungsformate sein, die jeweils zielgruppengerecht an die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer angepasst sind.

Was die notwendige Ausstattung angeht, sind wir auf einem guten Weg. Wo ich mir noch mehr Impulse wünsche, ist bei der Förderung digitaler Skills und beim Thema „Digitale Bildung“. Wollen wir digitale Inklusion ernst nehmen, müssen wir Projekte und Angebote immer auch gleich digital und integrativ denken, ohne dabei den sozialen Kontakt zu den Menschen und den persönlichen Austausch zu verlieren. Digitale Inklusion muss selbstverständlich werden. Auch deshalb sollten Politik und Verwaltung mit gutem Beispiel vorangehen. In den letzten Jahren hat sich in dem Feld viel getan. Dennoch haben wir noch Luft nach oben, vor allem, wenn man in Länder wie Norwegen schaut, wo die Bereitstellung von Open Educational Resources gesetzlich verankert ist.

 

Philipp Bohn: Zugang zu schnellem Internet, Endgeräte wie Laptops und Tablets und vor allem Medienkompetenz sind Voraussetzungen für digitale Bildung sowohl auf Seiten der Schulen als auch bei den Familien. Wie ist hier die Situation aus deiner Perspektive speziell in der Corona-Krise und wo gibt es Handlungsbedarf?

Serap Güler: Die Corona-Krise hat wie ein Brennglas gewirkt und soziale Ungleichheiten deutlicher sichtbar gemacht. Besonders hart wurden Kinder und Jugendliche getroffen, die sozial oftmals eh schon benachteiligt sind. Nicht jede Familie hat einen Internetzugang, geschweige denn für jedes Kind ein Tablet oder einen Laptop. Es ist auch nicht jede Wohnung so groß, dass die Kinder neben dem Homeoffice der Eltern auch genügend Rückzugsorte für das Homeschooling finden. Hinzukommt, dass viele Kinder beim Lernen auf sich allein gestellt waren, da die passenden digitalen Angebote der Schulen teils gefehlt haben oder Eltern nicht unterstützen konnten, weil sie nicht mit dem Lernstoff vertraut waren und der deutschen Sprache nicht mächtig sind. Medienkompetenz war während des Corona-Lockdowns aber auch besonders im außerschulischen Bereich gefragt. Dabei ging es nicht nur um die Frage der Bildschirmzeit, sondern auch darum, für welche Interaktionen, Formate und Inhalte Kinder und Jugendliche digitale Medien nutzen. Leider sehen wir eine digitale Spaltung entlang bekannter Kriterien wie Bildung, Herkunft, und sozialer Lage. Die Herausforderungen, die wir von sozialer Teilhabe kennen, gelten also auch insbesondere für digitale Teilhabe. Wir in Nordrhein-Westfalen eröffnen Familien deshalb Möglichkeiten, mit denen sie finanzielle Leistungen digital beantragen können – das so etwas wichtig ist, hat nicht zuletzt die Corona-Krise deutlich gemacht. Geplant ist eine zentrale digitale Anlaufstelle für Familien in NRW, über die Leistungen für Kinder und Familien zukünftig einfach gefunden und online beantragt werden können.

 

Philipp Bohn: Oft wird gefordert, dass Kinder und Jugendliche schon in der Schule Programmieren lernen sollen. Meiner Meinung nach ist es hinsichtlich gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Entwicklungen nachhaltiger, bei digitaler Medienkompetenz anzusetzen oder auch aus dem digitalen Umfeld bekannte Problemlösungstechniken zu vermitteln–also etwa die agile Zusammenarbeit in Teams. Was denkst du?

Serap Güler: Technische Fähigkeiten wie Programmieren, das versierte Anwenden von Software oder ein Grundverständnis von Algorithmen sind nur eine Facette, wenn wir von digitalen Kompetenzen sprechen. Mindestens genauso wichtig sind auch analoge Skills, wie etwa das kritische Hinterfragen von Inhalten, ein sensibles Identitätsmanagement und Selbstregulierung und Kommunikations- und Kooperationsregeln. Aber auch das Produzieren und Präsentieren von Inhalten und Angeboten ist eine wesentliche Fähigkeit, die erlernt werden kann. In Nordrhein-Westfalen orientieren wir uns mit unseren Angeboten in der schulischen als auch in der außerschulischen Medienarbeit am Medienkompetenzrahmen NRW. Hier spielt die Medienpädagogik eine besondere Rolle. Wir unterstützen damit ein breites Spektrum medienpädagogischer Träger.

 

Philipp Bohn: Barrierefreiheit von Software ist ein wesentlicher Faktor bei der digitalen Inklusion von Menschen gerade am Arbeitsplatz. Ist die Softwareindustrie hier weit genug?

Serap Güler:  Die technischen Lösungen sind da. Die Softwareindustrie hat auf den großen Bedarf in der Bevölkerung reagiert. Ich denke hier beispielsweise an die Möglichkeiten, bei denen sehbehinderte Menschen per Fingerbewegung Texte vergrößern oder verkleinern können. Dadurch können sie die Inhalte besser und schneller verarbeiten. Oder aber automatische Übersetzungsprogramme, die bei der Verständigung helfen. Solche Programme können eine enorme Entlastung sein. Allerdings gibt es noch immer eine Vielzahl von Programmen, die nur unter Zuhilfenahme teurer Spezialsoftware oder -hardware, nutzbar sind. Die Nutzung wird dabei dann zu einer Kostenfrage.

 

Philipp Bohn: Und sind barrierefreie Remote Work-Anwendungen wie Chat und Video auch im öffentlichen Bereich eine Möglichkeit, auch Menschen mit Behinderung besser in die Arbeitswelt zu integrieren?

Serap Güler: Davon bin ich überzeugt. Die Umstellung unseres Arbeitsalltages während der Corona-Krise hat dies noch einmal unterstrichen. Mobiles und ortunabhängiges Arbeiten kommt beispielsweise Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zu Gute. Die Nützlichkeit eines Tools ist natürlich auch immer abhängig von der Einschränkung der betroffenen Person. Videoübertragungen sind zum Beispiel für blinde Personen wenig hilfreich. Da Chatfunktionen der E-Mail sehr ähnlich sind, erweitert der Chat nur in sehr speziellen Fällen die Handlungsfähigkeit. Grundsätzlich können assistierende Technologien aber einen großen Beitrag zu einer besseren Inklusion am Arbeitsplatz leisten, egal ob im Öffentlichen Dienst oder in der freien Wirtschaft.

 

Philipp Bohn: Diversity ist für einige Unternehmen im ersten Schritt oft erstmal ein HR-Programm. Wie können Unternehmen und Behörden strukturell sicherstellen, die Stimmen aller Mitarbeiter auch von den bisherigen Rändern der Organisation zu hören?

Serap Güler: Für den optimalen Einsatz und die bestmögliche Motivation der Beschäftigten ist ein Wandel der Unternehmenskultur hin zu einer diversitätssensiblen Personalführung notwendig – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Notwenigkeit einer Fachkräftesicherung und -bindung zur Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Dabei kann ein von der Unternehmensleitung gestütztes Diversity Management helfen. 

 

Philipp Bohn: Angebote wie die ReDI School of Digital Integration leisten einen Beitrag zur Integration durch digitale Bildung und Qualifikation, auch für Geflüchtete. Gibt es hier weitere positive Beispiele?

Serap Güler: Die ReDI School of Digital Integration ist ein sehr spannendes Projekt, das Integration ganzheitlich versteht. Die kostenlosen Programmier- und Computerkursen richten sich neben Geflüchteten auch an Menschen mit Zuwanderungsgeschichte generell, aber auch speziell an Frauen und Kinder. Ich habe die ReDI School in Berlin besucht und war beeindruckt, wie kreativ und konsequent der Empowerment-Gedanke dort gelebt wird. Im Zuge der Flüchtlingskrise haben wir eine wahre Revolution an digitalen Integrationsprojekten erlebt. Viele davon agieren aber leider nach wie vor lokal. Anders ist das beispielsweise mit Integreat. Eine Gruppe junger Studenten hat in Augsburg eine App entwickelt, die Geflüchteten hilft, sich in ihrer Umgebung neu zu orientieren. Und das mehrsprachig und kostenlos. Heute wird Integreat von vielen Kommunen bundesweit genutzt und angeboten. Auch wir als Land planen eine Zusammenarbeit. In Bezug auf Kinder und Jugendliche fördert die Landesregierung Nordrhein-Westfalen das Angebot „NIMM! Das Netzwerk Inklusion mit Medien“. Hier werden Einrichtungen der offenen Kinder- und Jugendarbeit in NRW unterstützt und ermutigt, Medienprojekte für alle durchzuführen. Die Initiative gibt Tipps, wie man Kinder mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Behinderungen in die praktische Medienarbeit einbindet. Daneben informiert es über barrierefreie digitale Medien und über einfache Medienarbeit mit Tablets.

 

Philipp Bohn: Und bei der CDU? Helfen digitale Formate wie das kürzlich stattgefundene Kickoff 2020 Meetup des Konrad-Adenauer-Hauses bei der politischen Inklusion? Schließlich sollte es so für mehr Bürger einfacher sein, sich am politischen Meinungsbildungsprozess in einer sicheren und leicht zugänglichen digitalen Umgebung zu beteiligen.

Serap Güler: Definitiv! Parteien müssen Wege finden, ihre Mitglieder und die Bevölkerung auch digital zu erreichen. In Pandemie-Zeiten gilt dies umso mehr. In NRW finden im September Kommunalwahlen statt. Der klassische Wahlkampf ist unter Corona-Bedingungen nur sehr eingeschränkt möglich. Ich bin überzeugt, dass der Bundestagswahlkampf im kommenden Jahr für die digitale Kommunikation eine Lanze brechen muss, um erfolgreich zu sein. Hier erhoffe ich mir eine Signalwirkung für die gesamte politische Kommunikation.

 

Philipp Bohn: Werden Online-Kommunikationsplattformen über die Corona-Krise hinaus eine wichtigere Rolle in der politischen Arbeit spielen? Schließlich könnten so zum Beispiel auch jüngere Menschen mit Beruf und Familie statt in der Gaststätte remote an der Ortsvereinssitzung teilnehmen. Das würde der Politik sicherlich neue relevante Perspektiven erschließen.

Serap Güler: Ja und nein. Politische Arbeit wird immer auch auf das persönliche Gespräch angewiesen sein. Das gilt insbesondere, wenn sich Entscheidungsfindungen als recht schwierig erweisen. Klar ist aber auch, dass digitale Meetings häufig besser mit der Familie und dem Beruf vereinbar sind und nach meiner Erfahrung häufig auch sehr effektiv verlaufen. Wichtig ist eine gute Mischung aus beidem: flexibilisierte Parteiarbeit auf der einen Seite und der persönliche Kontakt auf der anderen Seite.

Zur Person:

Kurzvita Serap Güler

1980 in Marl geboren und als Kind einer türkischen Einwandererfamilie aufgewachsen. Nach dem Abitur Ausbildung zur Hotelfachfrau und anschließendes Studium der Kommunikationswissenschaften und Germanistik an der Universität Duisburg-Essen mit dem Abschluss Magistra Artium.

Im Anschluss beschäftigt bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung als Referentin im Ministerbüro für das Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NRW und danach als stellvertretende Pressesprecherin im Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter.

Von 2012 bis 2017 war sie Landtagsabgeordnete und integrationspolitische Sprecherin der CDU. Seit 2012 ist sie im Bundesvorstand der CDU Deutschlands und seit 2016 Mitglied im Beirat des C-Netz. Am 30. Juni 2016 wurde sie von Ministerpräsident Armin Laschet zur Staatssekretärin für Integration ernannt.

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