Herausforderungen und Potenziale digitaler Sicherheits- und Außenpolitik in Deutschland und Europa

Herausforderungen und Potenziale digitaler Sicherheits- und Außenpolitik in Deutschland und Europa

Tyson Barker ist seit Oktober 2020 bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) Programmleiter Technologie und Außenpolitik. Wir sprechen mit ihm vor allem im Kontext laufender miliärischer und politischer Konflike über digitale Souveränität als Sicherheitsfaktor, digitale Kriegsführung in der Ukraine sowie die Zeitenwende auch für Cyberdefense.

Digitale Souveränität als Sicherheitsfaktor

Philipp Bohn: Die aktuelle Sicherheitslage macht deutlich, wie abhängig Deutschland von ausländischem Öl und Gas ist. Gilt das auch für Bits und Bytes?

Tyson Barker: Die externen IKT-Abhängigkeiten Deutschlands sind genauso groß wie die Rohstoffabhängigkeiten. In allen Bereichen – Hardware, Software, B2C-Plattformen, Cloud-Dienste, Daten, integrierte Systeme – hat Deutschland ein erhebliches Defizit im digitalen Handel. Das ist an und für sich nicht unbedingt schlecht. Schließlich beruht die Grundlage der geopolitischen Macht Deutschlands, sein industrielles Fundament, auf Handelsüberschüssen bei Industriegütern. Aber wie beim Gas wird auch die Technologie immer mehr zu einer Waffe, und Deutschland hat den so genannten Faktor der Vertrauenswürdigkeit zu gutmütig bewertet. Wie beschaffen Deutschland und Europa ihre kritischen Infrastrukturen? Welche geopolitischen Folgenabschätzungen führt Berlin durch, um Beschaffungsentscheidungen über Hardware für kritische Infrastrukturen und digitale Dienste zu bewerten? Dies sind zentrale geopolitische Fragen zur digitalen Souveränität, deren Diskurs in Deutschland noch unterentwickelt ist.

Allerdings muss es Unterschiede geben, wie Deutschland – und die EU – externe Abhängigkeiten von amerikanischer und chinesischer Technologie wahrnehmen. Der eine ist ein NATO-Verbündeter und eine Demokratie. Der andere ist ein techno-autoritärer Staat. Zuweilen werden im politischen Diskurs ungewollt falsche Gleichsetzungen zwischen Cloud, Plattformen und KI aus den USA einerseits und kritischen Materialien, Halbleitern, Smart-City-Technologie und 5G-Ausrüstung aus China andererseits gefördert.

Philipp Bohn: Der digitale Abhängigkeitsindex der Konrad Adenauer-Stiftung und der Universität Bonn bestätigt einen entsprechend hohen Grad digitaler Abhängigkeit Deutschlands und Europas bei Software, Hardware und Eigentumsrechten von USA und China. Ist das der deutschen Sicherheitscommunity hinreichend bewusst?

 

 

Tyson Barker: Die nationale Sicherheitsbehörde ist wenig bis gar nicht in den technologiepolitischen Diskurs in Deutschland eingebunden. Das ist aus mehreren Gründen ein Problem. Zum einen führt es auf diplomatischer Ebene zu Asymmetrien bei der Entwicklung einer internationalen politischen Strategie zum Schutz der Privatsphäre, zur Forschung in aufstrebenden Technologien wie KI, AR/VR, zur Industriepolitik und zum Markt- und Technologiezugang. Zweitens schränkt es auch die Finanzierung zivil-militärischer Finanzierungskollaboration mit Universitäten und Forschungsinstituten wie Fraunhofer ein, die oft von der Forschung und Entwicklung im Verteidigungsbereich für die Entwicklung von Mehrzwecktechnologien profitieren könnten, die sowohl zivile als auch militärische Anwendungen haben. Die Existenz von Zivilklauseln in der universitären Forschung verstärkt diese künstliche Barriere noch. Drittens wird die Nutzung des militärischen Beschaffungswesens als Anreiz für die deutsche und europäische Technologieindustrie dadurch behindert, dass es an strategischen Überlegungen zur effektivesten Entwicklung einheimischer Kapazitäten fehlt. Und schließlich bedeutet die begrenzte Teilhabe der nationalen Sicherheitsbehörden an der Technologiedebatte, dass elemenatare Fragen zur Vertrauenswürdigkeit von Anbietern kritischer Infrastrukturen – in Bezug auf mobile Netzwerkausrüstung, Rechenzentren, Smart-Cities, Screening-Technologie und Cloud – oft nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Philipp Bohn: Im Ranking der digitalen Souveränität liegen Israel und Estland vor Deutschland und anderen europäischen Ländern. Sind die Länder erreichbare Vorbilder für uns? Was können wir lernen?

Tyson Barker: Israel und Estland sind aus mehreren Gründen interessante Beispiele. Wie mein Kollege am Hasso-Plattner-Institut, David Hagebölling, und ich kürzlich dargelegt haben, haben sich einige der dynamischsten Innovationsökosysteme im Bereich der digitalen Technologie in kleinen, offenen Volkswirtschaften entwickelt, die einer anhaltenden Sicherheitsbedrohung durch einen geopolitischen Rivalen ausgesetzt sind. Diese existenzielle Bedrohung kann ein nationales Selbstverständnis schaffen, das einen interdisziplinären Ansatz für staatlich geförderte Forschung und Entwicklung ermöglicht und die Herausforderungen eines kleinen Binnenmarktes überwindet. Dies ist der Fall in Taiwan, Estland, Südkorea und Israel, die alle ein weltweit wettbewerbsfähiges technologisches Innovationsökosystem entwickelt haben, das oft eng mit ihrem Verteidigungssektor verbunden ist.

Als Mittelmacht, die – selbst jetzt (obwohl sich das mit dem nahenden Winter ändern könnte) – keine unmittelbare geostrategische Bedrohung wahrnimmt, ist Deutschland mehr auf den EU-Markt angewiesen, um seine Ambitionen als Innovationszentrum zu untermauern. Die Grenzen der regulatorischen Vereinheitlichung in der EU sind jedoch offensichtlicher geworden, und Deutschland sollte seine Marktaufbaustrategie auf die Nutzung offener Standards und Open-Source-Software verlagern, um die Hürden für Forschung und Entwicklung im Bereich der digitalen Technologien auf der Angebotsseite zu senken. Größere Skaleneffekte von Hochschulnetzwerken können auch dazu beitragen, die Stärken der deutschen Technologiekonkurrenten in Bereichen wie Marktgröße (USA, China) oder durch einen sicherheitsbegründeten Zusammenhalt (Israel, Taiwan, Südkorea) auszugleichen.

Philipp Bohn: Die europäische Verteidigungsindustrie soll eine Combat Cloud zur Vernetzung und Koordinierung digitaler Waffensysteme entwickeln. Dieses vernetzte Datensystem der nächsten Generation soll um den neuen Kampfjet (Future Combat Air System, FCAS) herum entstehen, aber erst 2040 eingeführt werden. Hier müssen wir schneller werden, um nicht wieder von amerikanischen Plattformen abhängig zu sein, oder?

Tyson Barker: Diese Fragen sind äußerst kompliziert. Wie Russlands Krieg in der Ukraine unterstrichen hat, bleibt die führende Rolle der USA als Garant der europäischen Sicherheit – auch im Bereich der Spitzentechnologie – für Deutschland und Europa unabdingbar. Diese Rolle der USA umfasst sowohl High-End-Ausrüstung als auch einzigartige IT-Systemunterstützung, Cyber-Fähigkeiten und technologische Spitzenentwicklungen wie die LEO-Weltraumkonnektivität (Satelliteninternet). Die Spannungen zwischen Deutschland und Frankreich, die zur Verschiebung der Kabinettssitzung in Rouen am 27. Oktober – der ersten unter der neuen Regierung Scholz – geführt haben, zeigen, dass es nach wie vor unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, wie gemeinsame Verteidigungsprojekte wie FCAS angegangen werden sollen. Nichtsdestotrotz sind Resilienz, Diversifizierung und Entscheidungsfreiheit Kernelemente des europäischen Ansatzes für digitale Souveränität. In diesem Sinne müssen Deutschland – und Europa – die Möglichkeit einkalkulieren, dass sich die politische Haltung in Washington gegenüber der europäischen Sicherheit ändern könnte.

Am wichtigsten ist, dass Deutschland – gemeinsam mit Frankreich und der EU – die Fundamente seiner industriellen Innovationsbasis stärkt und die Kommerzialisierung von Spitzenforschung erleichtert. Dazu gehört auch die Neupositionierung der Produktionskapazitäten in den Bereichen Autos, Haushaltsgeräte und Maschinen, aber auch in den Bereichen Chemie, Optik und Biotechnologie im Hinblick auf die Auswirkungen von Big Data, KI und riesigen Rechnerkapazitäten.

Philipp Bohn: Inkubatoren wie der Cyber Innovation Hub ermöglichen agile, digitale Innovationen für die Bundeswehr, auch in Zusammenarbeit mit Startups. Wie können wir solche Plattformen stärken, gerade hinsichtlich oft komplexer und langwieriger Beschaffungsverfahren in der Bundeswehr?

Tyson Barker: Das Militär ist eine Wiege der kapitalintensiven Innovation. Wer zum Beispiel sagt, die USA hätten keine Industriepolitik, der versteht die USA nicht – es ist das Militär. DARPA, der 3. Offset, das Defense Innovation Board und die neuen Bemühungen um die National Security Commission on AI haben den strategischen Mehrwert von der Schaffung eines Bindegewebes zwischen dem US-Militär und dem Silicon Valley erkannt. Diese Bemühungen waren einigermaßen erfolgreich bei der Etablierung einer Kultur der gegenseitigen Entwicklung und der Abstimmung der Interessen. Die Bundeswehr verfügt nicht über diese Tradition die Innovation voranbringt, der Erstanwendung und der Förderung ihrer industriellen Grundlage durch ihre militärische Beschaffung. Die Zusammenarbeit zwischen dem deutschen Militär und dem Privatsektor – insbesondere dem Technologiesektor – ist noch immer mangelhaft. Es bleibt auch abzuwarten, wie die deutsche Start-up-Szene auf den Ruf der nationalen Sicherheit reagiert, aber es gibt neue Akteure wie das KI-Start-up Helsing.

Digitale Kriegsführung in der Ukraine

Philipp Bohn: Der Stellvertretende Ministerpräsident und Minister für digitale Transformation Mykhailo Fedorov vergibt „Peace Prizes“ an Partner wie Amazon Web Services und Microsoft, die im laufenden Krieg konkret mit ihren Lösungen helfen. Daten konnten vor der Invasion in die Cloud und so außer Landes geschafft werden. Bekommt ein europäischer Cloud-Anbieter auch noch einen Preis?

Tyson Barker: Wenn es einen Bereich gäbe, auf den man sich bei der europäischen Unterstützung konzentrieren könnte, der einen Friedenspreis verdient hätte, dann wäre es die Arbeit von mehr als 71 EU-Telekommunikationsunternehmen und dem „Body of European Regulators for Electronic Communications“ (BEREC) zur Senkung der Roaming-Kosten, zur Verteilung von Millionen von SIM-Karten, zur Einführung von Mobilfunktarifen zur Unterstützung von Euro-Ukraine OSINT und zur Kontaktaufnahme mit Angehörigen sowie zur allgemeinen Unterstützung der Vernetzung für ukrainische Flüchtlinge in der EU. Der „sanfte Beitritt“ der ukrainischen Telekommunikationsregulierungsbehörde zu BEREC war sowohl symbolisch als auch praktisch wichtig, um die Ukraine mit dem Rest Europas in Bezug auf 5G und Edge Computing in der Zukunft in Einklang zu bringen.

Philipp Bohn: Die USA haben ihren ukrainischen Verbündeten zusammen mit dem Privatunternehmen SpaceX kurzfristig mit der „Starlink“-Technologie ausgestattet, also Internet über Satellitenverbindungen. Somit ist Kommunikation auch in Regionen und Städten wie Mariupol möglich, in denen die Infrastruktur zerstört ist. Brauchen wir in Europa auch so eine Technologie, für uns und unsere Verbündeten?

Tyson Barker: SpaceX ist ein außergewöhnlicher Akteur – und das nicht immer im Guten. Die Konnektivität am Grenzbereich zu den besetzten Gebieten war eine Lebensversicherung für die Ukrainer. Aber Musks freiberufliche Diplomatie in Bezug auf die Ukraine und Taiwan – in Kombination mit seinem unberechenbaren Verhalten – sind nicht gerade förderlich. Darüber hinaus findet derzeit eine „Landnahme“ in der niedrigen Erdumlaufbahn statt, in der SpaceX und Amazons Kuiper beabsichtigen, die Umlaufbahn mit Tausenden von Satelliten zu überfluten, die Weltraummüll erzeugen könnten, der es unmöglich macht, LEO als globales öffentliches Gut zu erhalten. Europa sollte dies nicht unterstützen.

Aus geopolitischen Gründen müssen Europa – und seine Verbündeten – die Konnektivität in Konfliktgebieten weltweit gewährleisten, und Satelliteninternet ist eine Möglichkeit, dies zu tun. Europa hat sein eigenes Secure Connectivity Programme mit einem Budget von 6 Milliarden Euro angekündigt, wovon 2,4 Milliarden Euro aus GOVSATCOM und anderen Kommunikations- und Verteidigungsprogrammen stammen werden. Nun hat EU-Kommissar Thierry Breton ja auch das IRIS²-Programm verkündet, also Eruopas neue „Infrastructure for Resilience, Interconnection & Security by Satellites“.

Philipp Bohn: Cyberattacken sind immer mehr Mittel der Kriegsführung. Ist die kritische Infrastruktur in Deutschland ausreichend geschützt?

Tyson Barker: Deutschland hat hart daran gearbeitet, neue Kontrollen, Meldepflichten und CERTs (Computer Emergency Response Team) zu schaffen, um auf Angriffe auf kritische Infrastrukturen zu reagieren. Wie die Auswirkungen des ViaSat-Satellitenangriffs auf Enercon-Windkraftanlagen, aber auch auf das DIHK-Netz im August und der Ransomware-Angriff auf die Verwaltung des Landkreises Anhalt-Bitterfeld zeigen, ist die Bedrohungslage erheblich und nimmt weiter zu.

Philipp Bohn: Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte im Spiegel-Interview und entgegen Vereinbarungen im Koalitionsvertrag der Ampel: „Wir müssen stärker über Gegenmaßnahmen bei Cyberangriffen nachdenken“, also sogenannte Hackbacks oder aktive Cyberabwehr. Was ist Ihre Position dazu?

Tyson Barker: Einige der deutschen Partner haben das Gefühl, dass der Begriff „Hackback“ [aktive Cyberabwehr] im politischen Diskurs in Berlin nicht hinreichend definiert ist. In den USA bezieht er sich auf die Fähigkeiten des privaten Sektors: 1) gestohlene Daten zu löschen oder wiederherzustellen; 2) das System eines Hackers zu schädigen oder 3) einen Hacker zu identifizieren, um ihn den Strafverfolgungsbehörden zu melden. Die Debatte in Deutschland bezieht sich vor allem auf die Fähigkeiten der Regierung.

In der Cyber-Domäne müssen die Regierungen ihre Fähigkeiten und Ziele an der Logik des strategischen Umfelds und an den De-facto-Normen ausrichten. Die Cyber-Domäne ist offen und verwundbar. Und die Wirksamkeit von Abschreckungsmaßnahmen für Angriffe unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Konflikts (Diebstahl von geistigem Eigentum, Datendiebstahl, Wahlbeeinflussung) hat sich nicht bewährt. In den USA hat sich ein Mentalitätswechsel von einer diskreten, vorfallbasierten zu einer kumulativen, vorausschauenden und dauerhaften Vorgehensweise vollzogen. Das US-Cyberkommando hat daher eine Doktrin des „persistent engagement“ aufgestellt, „um in ständigem Kontakt mit unseren Gegnern zu sein. Wir wollen eine proaktive Stellung einnehmen und nicht eine reaktive Stellung“. Operationalisiert wird dies durch die Haltung der „Vorwärtsverteidigung“ oder „in den Wirkungsbereich unserer Gegner zu dringen, damit wir die Vereinigten Staaten und unsere Verbündeten sowie unsere Interessen besser verteidigen können.

Die USA verfügen über außergewöhnliche Fähigkeiten, über die nur wenige andere Staaten, vielleicht nur China und Russland, verfügen. Aus diesem Grund haben viele NATO-Verbündete in den baltischen Staaten, aber auch in Kroatien und Montenegro – sowie in der Ukraine – die USA aufgefordert, in der Grauzone zwischen den US-Domänen („blauer Raum“) und der gegnerischen Domäne („roter Raum“) „offensiv zu agieren“. Dies mag vielleicht keine bevorzugte Option für Deutschland sein, aber Deutschland sollte alle verfügbaren Optionen unter Berücksichtigung von Kapazitäts- und juristischen Beschränkungen in Betracht ziehen.

Philipp Bohn: Im russischen Krieg gegen die Ukraine beobachten wir in den sozialen Medien und im Staatsfernsehen massive Desinformationskampagnen, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Das amerikanische „Department of Homeland Security“ hat die Bekämpfung solcher Kampagnen nun einem „Disinformation Governance Board“ übertragen. Wo liegt diese Verantwortung in Deutschland?

Tyson Barker: Leider wurde das Disinformation Governance Board selbst zum Ziel einer brutalen, koordinierten Desinformationskampagne und wurde nach weniger als einem Monat seines Bestehens abgeschaltet. Desinformation und Inhaltsmoderation sind zum Gegenstand der starken politischen Polarisierung geworden, die die USA in den letzten sechs Jahren geplagt hat. Staaten wie Texas und Florida versuchen, Gesetze zu erlassen – die derzeit vor Gericht umstritten sind – die Hassreden und Desinformationen Auftrieb geben könnten. Wie wir an Elon Musks leichtfertigem Umgang mit den Gesetzen zur Inhaltsmoderation in Deutschland und der neuen DSA sowie an der Datenzugangsrichtlinie von TikTok sehen, haben einige große Plattformen einfach noch nicht begriffen, dass die Zeit der rechenschaftslosen Plattformen, die sich selbst verwalten, vorbei ist. In Europa gibt es in diesen Bereichen konsequente Gesetze – die EU muss diese zur Anwendung bringen, um Akteure wie Musk und ByteDance dazu zu bringen, diese auch einzuhalten.

„Zeitenwende“ auch für Cyberdefense?

Philipp Bohn: Die von Bundeskanzler Olaf Scholz vor einiger Zeit angekündigte „Zeitenwende“ sieht ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Ausstattung und Modernisierung der Bundeswehr sowie die Erreichung des Budgetziels von jährlich 2% des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung vor. In welche Mittel der digitalen Verteidigung sollen wir mit Priorität investieren?

Tyson Barker: Es gibt eine Menge Nachholbedarf bei der Bundeswehr, um ihre Einsatzfähigkeit für die Herausforderungen der konventionellen Verteidigung zu erhöhen. Wie wir in unserem Bericht über die digitale Grandstrategy darlegen, sollte die deutsche Regierung mindestens zwei Prozent des Sondervermögens für die Anschaffung disruptiver Verteidigungstechnologien bereitstellen. Dies würde Anreize für die Finanzierung von Risikokapital für neue Verteidigungs-Startups und für höhere F&E-Ausgaben der etablierten deutschen Verteidigungsunternehmen schaffen.

Philipp Bohn: Wir haben vor allem über die Herausforderungen und Risiken für die digitale Sicherheits- und Außenpolitik gesprochen. Aber wo siehst du das größte digitale Potenzial für Deutschland und Europa? Sind Sie zuversichtlich, dass wir es erreichen?

Tyson Barker: Wie wir in unserem Digitial Grand Strategy Report darlegen, verfolgt Deutschland bei der technologischen Modernisierung einen schrittweisen Ansatz. Das hat sich in der Vergangenheit bewährt. Aber jetzt ist es an der Zeit für einen grundlegenden Mentalitätswandel. Überlegen Sie einmal. Selbst vor dem Hintergrund des Krieges in Europa erinnert der digitale Wandel, mit dem Deutschland und die EU konfrontiert sind, an vergangene technologische Zwänge.

Der heutige Umbruch spiegelt in vielerlei Hinsicht einen Sputnik-Moment des 19. Jahrhunderts wider, nämlich die Niederlage Napoleons gegen Preußen bei Jena 1806, die einen Modernisierungsschub auslöste, letztlich den Weg für Deutschlands industrielle Entwicklung der „Gründerzeit“ ebnete und den Grundstein für die geoökonomische Macht Deutschlands im 21. Jahrhunderts legte. Die auf Jena folgende fundamentalen Staatsreform, angeführt von einer Gruppe von Staatsphilosophen, zu denen Karl August von Hardenberg, Karl Freiherr vom und zum Stein und Wilhelm von Humboldt gehörten, gestaltete das Staatssystem neu, indem sie die Wirtschaft liberalisierte und gleichzeitig staatliche Anreize für die Modernisierung der Industrie schuf. Umstürzler innerhalb der öffentlichen Verwaltung, die jeden Aspekt des etablierten Systems hinterfragten, trieben den neuen Ansatz voran. Ein solches System ermöglichte es Deutschland, eine vermeintliche Schwäche, die politische Fragmentierung, in eine Stärke zu verwandeln. Dank der deutschen Zollunion förderte das System auch Innovationen, erweiterte den Marktzugang und begünstigte die Spezialisierung. Im Wesentlichen wurde Deutschland zu einem Laboratorium der industriellen Moderne. Die Gründerzeit mag erhebliche undemokratische Mängel aufweisen, aber Siemens (1847), Bayer (1863), BASF (1865), Daimler (1883), Bosch (1886), Allianz SE (1890) und Miele (1899) haben alle in dieser Zeit ihren Ursprung. Es ist Zeit für eine neue Gründerzeit in Deutschland und Europa – Berlin und Brüssel werden dabei eine wichtige Rolle spielen müssen.

 

 

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Tyson Barker ist seit Oktober 2020 bei der DGAP als Programmleiter Technologie und Außenpolitik tätig. Zuvor arbeitete er beim Aspen-Institut Deutschland als stellvertretender Executive Direktor und Fellow und war dort für die Digital- und Transatlantik-Programme verantwortlich. Davor war Barker in zahlreichen Positionen tätig, u.a. als Senior Advisor im Büro für Europäische und Eurasische Beziehungen im US-Außenministerium und als Direktor für transatlantische Beziehungen bei der Bertelsmann Stiftung. Zudem hat er für zahlreiche Zeitschriften auf beiden Seiten des Atlantiks geschrieben, unter anderem für Foreign Affairs, Foreign PolicyPoliticoThe AtlanticThe National Interest und Der Spiegel

Barker war Fulbright-Stipendiat in Österreich und Fellow für das Truman National Security Project. Er hat außerdem ein Stipendium des taiwanesischen Kulturaustauschs und der Starr Stiftung erhalten, um über die chinesisch-europäischen Beziehungen zu forschen. Barker hat einen Bachelor-Abschluss von der Columbia University und einen Master-Abschluss von der Johns Hopkins University School of Advanced International Studies (SAIS).

 

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